Digital resources in the Social Sciences and Humanities OpenEdition Our platforms OpenEdition Books OpenEdition Journals Hypotheses Calenda Libraries OpenEdition Freemium Follow us

Historische Trendforschung

Die Sozialgeschichte braucht einen methodologischen Zugriff auf die Entstehung von neuartigen kulturellen, sozialen und ästhetischen Phänomenen seit den 1980er Jahren, um sie phänomenologisch in ihrer Wirkungsfähigkeit der Umgestaltung von (nicht nur) sozialen Strukturen sowie der Schaf­fung neuer symbolischer Ordnungssysteme wahrzunehmen.

Aus dieser Beobachtung geht die Idee von TrIBES heraus, sowohl theoretisch als auch empirisch eine sozial- und kulturhistorischen Trendforschung zu implementieren. Dadurch sollen relevante kulturelle „periphere Domäne“ (Paoli 2017) sowie soziale Phänomene der mittleren Reichweite seit den 1980er Jahren in den Fokus der Sozialgeschichte gebracht werden.

Warum Trends für Historiker?

Jenseits ihrer Stilisierung durch die Marktforschung, stellen Trends aus sozialwissenschaftliche Perspektive jene kulturellen, wirtschaftlichen, produktiven, konfessionellen usw. Auffassungen, die in unterschiedlichen sozialen Räumen entstehen und eine neue (wenn auch zunächst periphere) Handlungspraxis in der Gesellschaft auslösen. Obwohl diese oft von bzw. innerhalb Bestimmten sozialen Gruppen (Oberschicht, Mittelschicht, Subkulturen usw.) initiierten werden, Mittel- bis langfristig substantiieren sich diese neuen Auffassungen in neuen Identitäten und Zugehörigkeiten, Praxis- und Verhaltensmuster.

In manche Fälle entwickeln sie über eine bestimmte Zeit die Kraft, teilweise selbst Mainstream zu werden. Diese Auswirkung lässt sich mit dem von Chris Anderson beschriebenen »Long-Tail«-Effekt erklären. Anderson spricht in seiner Theorie auch nicht etablierten individuellen oder kollektiven Subjekten die Möglichkeit zu, Auffassungen, Lebensstile, Handlung Nischeninhalte (wie zum Beispiel Fake News) am Rande bzw. jenseits der allgemein akzeptierten handlungsleitenden Ordnungsmuster zu produzieren und damit über eine gewisse Zeit auf kollektiver und individueller Ebene ebenso viel Resonanz zu bekommen wie jene aus dem Mainstream. Genau solche Fälle werden für die Sozialgeschichte durch eine historische Trendforschung relevant.

Trends sind für die Geschichtswissenschaft also nicht nur „an sich“, sondern auch phänomenologisch wichtig. Sie bieten zum Beispiel einen Schlüssel für die Deutung der gegenläufigen Dynamik der Fragmentierung des sozialen Kollektivs nach dem Boom in transitorische Identitäten und der Entstehung von neuen Vergemeinschaftungs- und relationalen Formen seit den 1980er Jahren, sowie auf ihre Wirkung in Bezug auf soziale, politische, ökonomische, staatliche und religiöse Transformationsprozesse, welche im Kontext sowohl einer steigenden Verflüssigung und Emotionalisierung von Verhaltens-, Identitäts- und Partizipationsmustern als auch einer zunehmenden Relevanz der Technologisierung und Computerisierung der Gesellschaft angestoßen wird.

Warum eine Historische Trendforschung?

Denn jenseits ihrer Valenz als „Modeerscheinung“ bzw. als mögliche Subjekte der Pop-Geschichte, nehmen diese oft durch Konsum und mediale Entwicklungen geprägten Trends, Identi­täten und Zugehörigkeiten tatsächlich eine sozialhistorische Relevanz an, in dem sie in der Lage sind, neue symbolische Ordnungssysteme und materielle Verhältnisse zu schaffen und somit zentralen Orientierungsstandards und Strukturen des sozialen Gefüges in Frage zu stellen, diese neu zu definieren sowie die Daseinsberechtigung und die normative Kraft gesellschaftlicher Mittelinstanzen wie Par­teien, Kirchen, Betriebe, Gewerkschaften, sozialstaatlichen Strukturen usw. herauszu­fordern.

Die analytische Qualität einer sozial- und kulturhistorische Trendforschung liegt also darin, dass durch die historisch-hermeneutische Analyse von empirisch messbaren Entstehungs- und Etablierungsprozesse von sozialen Phänomene der mittleren Reichweite, bzw. durch die Beobachtung von Durchdringungsprozessen bestimmter Denkformen und Handlungspraxis in den Mainstream der Gesellschaft, eine vernetzten und quere Wahrnehmung der unterschiedlichen Wand­lungsprozessen und ihren interdependenten Effekten innerhalb der industriegesellschaftlichen Moderne der letzten 40 Jahren möglich wird. Damit sind u.a. sowohl die Schaffung von neuen post-traditionalen Identitäten und Zugehörigkeiten als auch die Infragestellung und Transformation von bestehenden Werte- und Verhaltensgefüge sowie Wirkungen und Auswirkungen auf soziale, politische, ökonomische, staatliche und religiöse Strukturen gemeint.

Da nach dieser interdependente Perspektive alles grundsätzlich interessant und alles gleichzeitig präsent ist, aber zugleich nichts wirklich als exklusiv und flächendeckend gelten kann, verspricht die Historische Trendforschung z.B. der Sozialgeschichte die Möglichkeit, heterogene Bewegungen, Strategien, individuelle und kollektive Diskurs- und Handlungspraxen als entangled zu betrachten und durch eine mehrschichtige Deutung die sozialhistorische Relevanz solcher Phänomene in Bezug auf unterschiedliche Kontexte und Bereiche des sozialen Lebens (also auch Transnational und Croisee) messen zu können.

Methodische und epistemologische Grundlage der Historische Trendforschung

Die Historische Trendforschung stützt sich methodologisch, in Anlehnung an die Medienarchäologie von Siegfried Zielinski, vornehmlich auf Fallstudien, die nicht nur die zentralen, sondern auch die peripheren Momente in der Geschichte hervorheben (Zielinski 2002). Durch eine somit neue Relationalität zwischen den Rändern und dem Zentrum wird es möglich, neue Zusammenhänge sichtbar und neu erfassbar zu machen. Diese werden durch eine Analyse der Sedimentierung von Trends, Lebensstilen, Wertevorstellungen, Identitäten, Zugehörigkeiten herausgearbeitet und in einen Zusammenhang zu den gegenwärtigen sozialen Umbrüchen, zur Umgestaltung von Gesellschaftsstrukturen und der Schaffung von neuen symbolischen Ordnungssystemen gestellt. Dazu gehören auch unbeachtet gebliebene, weniger erfolgreiche oder sogar teilweise versiegte Trends und soziale Phänomene (Zielinski 2002, Goddard 2018, Raphael 2019).

  • Die Historische Trendforschung fragt danach, auf welche Weise sich zum Teil über Jahrzehnte existierende Trends etablieren und stabilisieren konnten und inwieweit diese die Infragestellungs-, Krisen- und Transformationsprozesse von gesellschaftlichen Teilbereichen sowie politischen, wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen bedingten.
  • Die Historische Trendforschung untersucht also real existierende sowie zunehmend virtuelle soziale Räume und ihre Transformationsprozesse. Dabei werden die Interaktionen innerhalb dieser Räume, wie auch die Interaktionen aus dem Raum heraus mit der Außenwelt untersucht. So wird nachvollziehbar, wie es unterschiedlichen soziale Gruppen und Gebilden gelingt neue Lebensstile und/oder Wertevorstellungen in den gesellschaftlichen Mainstream zu etablieren (oder auch nicht).
  • Die Historische Trendforschung ermöglicht nachweisbare Wandlungsprozesse und konkrete Handlungen im politischen und sozialen Raum mit der Ebene der Wahrnehmung und Deutung zu verknüpfen. Diese können nicht zuletzt auch als Bestandteile der sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen (Finanzkrise, Deregulierung der Arbeitswelt, Flüchtlinge, Massentourismus, Krise der Demokratie, Krise der Familie, radikale Re-Konfessionalisierungsphänomene etc.) untersucht werden.